Kapitel 13

Diesmal tagte die Selbsthilfegruppe ausnahmsweise unter freiem Himmel. Die Mitglieder der FGA kamen in einem Football-Stadium in Kalifornien zusammen. Es war der Vorabend des Super Bowl und sie wollten an der Vorspannung von 800 Millionen Zuschauern rund um den Globus teilhaben.

Sie trafen sich am Rande des Spielfelds bei den untersten Reihen einer Kurve, da einige Götter, insbesondere die südeuropäischen, sich weigerten auf dem Rasen Platz zu nehmen. Das Stadium war in der Form eines länglichen Ovals gebaut und von wuchtiger Statur. Die längsseitigen Gebäude, die sich direkt an die Zuschauertribünen anschlossen, hatten mehrere Stockwerke. In der Mitte des Spielfelds war eine Bühne für die morgige Show vor dem Spiel aufgebaut. Die Beleuchtung war eingeschaltet und über die Werbe- und Anzeigetafeln flimmerte der zeitliche Countdown bis zum Beginn des Mega-Events. Der Himmel war sternenklar.

Neben dem üblichen Ablauf, also der Reaffirmation des Zwölf-Punkte-Programms und des Sharings derjenigen Götter oder Göttinnen, denen danach verlangte. war als Besonderheit der Vortrag eines Teams olmekischer Götter geplant. Diese sollten passend zur Lokalität zum Thema „Sportveranstaltungen als Reenactment des Kampfes kosmische Kräfte“ referieren. Dem war eine monatelange Diskussion in sozialen Netzwerken vorausgegangen, da die Griechen behaupteten, dass eine Sportstätte, wenn überhaupt, nur dann ein transzendentales Medium sein könnte, wenn genau die Länge von einem Stadion eingehalten würde. Die Maya und Olmeken hätten sich von daher überhaupt nicht zu wundern, dass ihre Kultur untergegangen sei, da sie ihre Bolzplätze von den Maßen her nicht im Griff gehabt hätten. Man könne vom Glück reden, dass ihre kultischen Ballspiele in maßlosen Quadraten nicht dazu geführt hätten, dass das ganze Universum zusammenbrach. Zur Vermeidung weiterer Konflikte einigte man sich darauf, heute die Mittelamerikaner in Ruhe ihr Konzept vorstellen zu lassen, wofür im Gegenzug die Griechen beim nächsten Treffen der FGA zum Thema „3000 Jahre Olympiade als ununterbrochene Botschafter von Friede und Kultur“ referieren dürfen sollten.

Noch bevor irgendeine Rede gehalten werden konnte geriet der Abend komplett aus den Fugen und bis heute besteht keine Einigkeit darüber was tatsächlich passiert war.
Zuerst bemerkte der Menëtu Òpalanïe, dass über ihnen etwas nicht stimmte. Der Himmel war auf einmal übersät mit Myriaden von Sternen wie er sie selbst bei klarem Himmel vor Ankunft der Weißen in Amerika nie gesehen hatte. Auch die Lichtverschmutzung der umliegenden Stadt Santa Clara sprach gegen die Sicht, die sich ihm bot.
Kurz darauf bebte die Erde und der Strom fiel aus. Derartige Vorkommnisse versetzen Götter noch nicht in Unruhe. Man war ja in Kalifornien, oder möglicherweise hatte sich einer der Kollegen oder Kolleginnen nicht beherrschen können, oder möglicherweise sogar zu alten Kräften gefunden.
Dann jedoch driftete Materie auseinander. Der Rasen mit der Bühne begann in den Himmel zu schnellen, die Tribünen mit dem äußeren Gebäude brachen vom Spielfeld ab und klappten wie Spielkarten nach hinten. Die Götter in den Sitzreihen konnten sich nur mit Sprüngen nach vorne retten. In rasender Schnelligkeit stob die Spitze eines Berges in die Höhe. Der Rasen des Spielfeldes wurde zu einem winzigen Teppich auf dem Gipfel, an dem die Selbsthilfegruppe sich festklammerte. Um den Fuß des explodierenden Berges riss die Erde entzwei und bildete einen tiefen Graben, der die Schichten der Erde bis zu ihrem Mittelpunkt aufzureißen schien. Die Wolken bildeten einen Kranz um den Berg und lagen weit unter den Göttern. Um sie herum war eine Art Äther, den sie teilweise nur aus Sagen kannten. Durch ein Wunder blieben alle heil und unversehrt. Wie nach einer Achterbahnfahrt mit Überschallgeschwindigkeit lagen die Götter für einen Augenblick benommen da. Um sie herum standen noch die Scheinwerfer und eine Anzeigentafel aus dem Football-Stadium, in dem sie noch vor einem Flügelschlag gesessen hatten. Die verbogenen Strahler begannen wieder Licht zu spenden und auch die Anzeigentafel sprang wieder an. Folgender Text begann in ständiger Wiederholung und in jeder Schrift oder Symbolik der Anwesenden über den Bildschirm zu flackern:

„Willkommen auf Mount Meru. Schauen Sie sich gerne um und fühlen Sie sich wie zu Hause. Falls Sie unsere freundlichen Mitarbeiter treffen sollten, teilen Sie ihnen bitte Ihr jeweiliges Zeitkontinuum mit.“

Von da an trennten sich die Erlebnisse der Beteiligten.

Athene richtete ihre Palla und ging auf die höchste Stelle des Gipfels. Von dort hielt sie nach dem Olymp Ausschau, den sie in weiter Ferne in östlicher Richtung entdeckt. Der Gipfel des Olymp lag weit unter ihr, was natürlich wie sie wusste nur eine optische Täuschung war, da der Olymp also Europa weit weg lagen und die Erde ja gekrümmt war. Kurz darauf wurde sie von zwei freundlichen Faunen in Empfang genommen, die sie mit Schnittchen und Erfrischungsgetränken begrüßten. Es sei ihnen eine große Freude, dass sie den Weg hinaufgefunden habe und sie käme genau richtig zur Talkrunde über Mathematik und kosmische Ordnung. Ohne Umweg über die Maske wurde sie in ein Fernsehstudio geführt, wo sie auf einem Podest neben einer grüngesichtigen Göttin mit acht Armen auf der einen und auf der anderen Seite einem leeren Sessel Platz nahm. Es wurden höflich Hände geschüttelt. Ihnen gegenüber standen ungefähr zwölfhundert Kameras auf sie gerichtet. Dann erschien der Moderator mit Glatze, Brille und orangenfarbener Robe, der zu ihrer großen Verwunderung seiner Zusammensetzung nach offensichtlich ein Mensch war. Wie es sein könne und was ihm einfiele, dass er als Mensch auf Mount Meru unterwegs sei? Er freue sich auch Frau Athene begrüßen zu dürfen und erklärte ihr, dass es eine kleine familiäre Tradition sei und er versuche soweit es sich einrichten ließe jede Reinkarnation einmal vorbeizuschauen. Er sei ohnehin gerade auf US-Tournee in San Francisco gewesen und von dort sei es ja nur ein Katzensprung. So, in wenigen Sekunden gingen sie auf Sendung. Wo der dritte Gast bliebe, fragte Athene. Der sei schon längst da wurde ihr erläutert. Ein Brahma ohne Form und aus reinem Bewusstsein. Ein ganz nettes Kontinuum, das nicht beißt. Sie würden sich sicherlich gut verstehen.
Man hört das Jingle einer erstaunlich erbärmlich klingenden Hammondorgel und die Talkshow begann.

„Sehr geehrte Damen und Herren, ich freue mich, dass sie wieder so zahlreich zugeschaltet haben und wie Sie wissen ist hier wie immer alles live. Auch für diejenigen von Ihnen, die diese Signale erst in einigen Lichtjahren empfangen möchte ich Ihnen heute einen ganz besonderen Gast in unsere Mitte vorstellen. Frau Göttin Athene vom Olymp, also dem griechischem Mount Meru.“

Man hörte Lacher von einem Tonband.
"Unser Thema heute ist Natur, Evolution und Mathematik. Wir freuen uns deshalb ganz besonders, dass wir Frau Athene für diesen Abend gewinnen konnten. Sie und ihre griechische Familie hat im besonderen Maße dazu beigetragen der Menschheit Mathematik, also Arithmetik, Geometrie und Musik zu vermitteln. Dies hat zu viele kulturellen Errungenschaften geführt und konnte in vielen Fällen dazu beitragen, das Leiden auf der Welt zu verringern.“
Ein Tonband und die vier Handpaare der grünhäutigen Göttin gaben einen kurzen Applaus. Athene fühlte sich geschmeichelt. Außerdem beruhigte sie das Thema, weil sie es in- und auswendig beherrschte. Die grüne Göttin tat ihr etwas leid, da sie so ungestaltet war. Aber man kann sich seine Eltern - hier vermutlich Titanen - ja nicht aussuchen. Das mit dem leeren Sessel fand sie etwas albern, aber sie hatte Manieren und würde sich bemühen fremde Kulturen zu respektieren.

Die erste Frage ging an sie. Wie sie und ihre Kollegen den Menschen das Rechnen beigebracht hätten und was dabei ihre Motivation gewesen sein. Sie berichtete in die Kameras, dass sie ursprünglich den Menschen überhaupt keine Naturgesetze lehren wollten und deshalb Prometheus für seine Industriespionage erst einmal bestraft hätten.

Wieder gab es höfliches Lachen vom Tonband.
Dann war Athene in ihrem Element. Sie erzählte von den Geistesblitzen, die sie Pythagoras gesandt hätten, von der schöpferischen und magischen Kräfte der Zahlen als Grundmuster natürlicher Ordnung, den Möglichkeiten der Vermessung von Schönheit, den perfekten geometrischen Körpern des Euklid und natürlich des Gesangs der Planeten durch ihre Intervalle im Abstand zu Erde, wobei sie scherzhaft anfügte dass sie hoffe, dass der Mount Meru keine Disharmonie in den Sphärenklang schneiden würde.

Dann stellten der Mensch und die grüne Achtarmige interessierte Fragen. Athene fiel dabei auf, dass ihre Talkpartnerin durchgehend irgendwelche Artefakte, wie Zimbeln, Dolche oder Gebetsketten in den Händen hielt, die ständig je nach Gesprächsinhalt oder Emotion wechselten.
Dann kam es zu einer etwas unangenehmen Situation. Der Moderator sagte, dass der angebliche Gott im Sessel eine Frage habe. Der Name des Gottes klang so kompliziert in Athenes Ohren, dass sie ihn sich nicht merken konnte. Die Grüne, die ihr später als Sudassa vorgestellt wurde und der Mensch blickten aufmerksam in Richtung des leeren Sessels. Athene hörte und verstand nichts. Dann sagte der Mensch an Athene gerichtet:

„Bitte, was sagen sie dazu?“

Sie blickte verwirrt in die zwölfhundert Kameras.

„Ähm, Entschuldigung ich habe die Frage nicht verstanden…“

Der Moderator löste die Situation elegant und professionell indem er anmerkte, dass der Brahma mit dem unaussprechlichen Namen hier versehentlich das griechische Wort Chronos mit Kairos vertauscht habe.

„Ja, das sind unterschiedliche Auffassungen von Zeit“, sagte Athene, die immer noch nicht verstand, was vor sich ging.

„Ein guter Punkt, vielen Dank Frau Athene!“, sagte der Moderator und befahl mit einer kaum merklichen Bewegung seines kleinen Fingers einen Applaus vom Tonband.

Dann kam Brahma Sudassa an die Reihe. Sie wurde nach ihrer Meinung zu Naturgesetzen, kosmischer Ordnung und Harmonie befragt. Athene fühlte sich von ihren Antworten abgehängt, da sie vieles nicht verstand, ließ sich aber nichts anmerken, da alle so freundlich miteinander umgingen und da es hier anscheinend nicht um eine Diskussion, sondern lediglich eine Vorstellung der eigenen Sichtweise ging.
Sudassa faselte etwas davon, dass bei den Menschen auf Daseinslevel Nummer fünf Mathematik, Intervalle und Formen sicherlich etwas Wunderbares seien. Die Ansicht einer Blume oder das Lauschen einer Musik sei dort sicherlich etwas Harmonisches und Schönes und trage damit zu Freude bei. Freude wiederum sei sicherlich ein hilfreicher Faktor auf dem Weg zur Erkenntnis. Von anderen Ebenen aus betrachtet könnte man jedoch davon ausgehen, dass Blumen oder Musik deshalb als schön rezipiert werden, weil die Rezipienten dazu konditioniert seien diese Dinge als schön wahrzunehmen. Das gleiche gelte für die Schönheit der mathematischen Gesetze des Kosmos. Dieses Erlebnis werde von vielen Wesen deshalb als schön wahrgenommen, weil sie davon ausgehen, dass diese Gesetze aus einem Geist oder einem Bewusstsein entspringen, welches dem eigenen ähnlich sei. Dies führe zu der Auffassung, dass ein höheres schöpferisches Wesen im Hintergrund am Werk sei. Die Wahrheit sei jedoch, dass der Geist des Empfängers einfach nach genau den gleichen Gesetzen geformt sei wie die Mathematik der jeweiligen Welt, in der er lebt. Die Schönheit der Dinge sei einfach ein Teil ihres funktionalen Designs und nicht Produkt eines Schöpfergottes.

Das sich anschließende Gespräch mit dem dritten Gast bestand für Athene aus langem Schweigen bis der Schlussapplaus sie weckte.
„Vielen Dank Frau Athene, dass sie bei diesem vertikalen Austausch mitgemacht haben“, sagte der Moderator beim Verlassen des Studios.

„Darf ich sie etwas fragen?“
„Ja sicher.“
„Der Kollege auf dem leeren Stuhl. Gab es den wirklich?“
Der Mensch überlegte kurz.
„Brahma Akincannayatanupa?

Er und alle Götter hier auf Mount Meru wissen, dass es sie nicht gibt.“

(…)

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