Kapitel 1

Einzige Orientierung im Dunkel sind die grün leuchtenden Kästchen der Notausgänge.

Es ist Nacht.

Die Geräusche, die sich durch die üppige Fassade und Fenster des Grand Hotels in den Veranstaltungsaal hineinschleichen, werden von dicken Vorhängen geschluckt. Über den aufsteigenden Stuhlreihen wo morgen über zwölfhundert Personen nach einer genauen Choreographie platziert werden schwebt noch ein leichter Geruch von Teppichreiniger.

Nichts regt sich im Saal. Morgen soll hier die zwölfte Ausgabe der Modenschau McP „Milano catwalks Paris“ stattfinden. Über den Giebeln und Türmen des Gebäudes schiebt sich der Vollmond durch den Himmel und in einem weiteren kleineren Festsaal findet eine russische Hochzeit statt, die durch dicke Mauern und verzweigte Korridore unbemerkt bleibt.

Die vorderen Stuhlreihen sind bereits mit edlen handgeschöpften Kärtchen mit den Namen berühmter Menschen belegt, während sich bereits ganz andere ungeladene Gäste auf den Weg in den Saal gemacht haben.

Als sich vor einigen Stunden die Dämmerung über dem westlichen Indien zurückzog erhob sich von dort ein riesiger Pfau in den Himmel, verwandelte sich in einer Drehung in den Ton D und flog in Richtung der untergehenden Sonne. Etwa zur gleichen Zeit staunten Fische im Atlantik nicht schlecht als ein Schwarm von H-Tönen in Richtung Gibraltar an ihnen vorbeieilte, den sie aufgrund der Schnelligkeit für Schwertfische hielten. Von Spanien her mähten Ziegen in einer Kette ein F weiter über die Pyrenäen die französische Küste entlang.

Das D landete zuerst auf dem Dach des Hotels und fand seinen Weg durch die Lüftungsschächte in das Innere des Saals. Das H schwappte auf den Strand, weiter auf die Promenade und floss durch Fensterritzen in den Saal, wo es sich erst einmal trocken schüttelte. Das F hatte in Ermangelung von Ziegen im näheren Umkreis des Hotels einen solchen Anlauf von den Bergen nehmen müssen, dass es als Fis durch die engen Schlüssellöcher in den Saal wehte und sich erst einmal um einen Halbton beruhigen musste.

Eine feine Bewegung begann den Saal zu erfassen, die Pflanzenverzierungen der Säulenkapitäle   begannen ihre Farnblätter auszurollen und eine sanfte Belebung legte sich über Gips und Stein. Aus dem Blattgold der Verzierungen lösten sich Insekten und verteilten sich wie Glühwürmchen. Die Töne schwollen an und aus den Früchten hoch oben begannen sich Wesen herauszuschälen, die Akanthusblätter beiseite zu schieben und an den Säulen hinunter zu gleiten. Sie waren amorph, teils der Beschreibung durch Worte entzogen oder vorsprachlich, begrüßten sich in kleinen Grüppchen, tauschten Höflichkeiten aus und nahmen dann auf Stuhllehnen, Fensterrahmen oder in der Luft Platz.

Auf der Bühne um das Rednerpult herum begann sich der Boden zu erwärmen bis er die Farbe änderte und kleine Flammen sichtbar wurden. Es wurde heller im Saal. An der Wand erschien eine Jagdszene, die an Höhlenmalerei erinnerte und an der Decke schob eine Keilschrift den Putz auseinander.

Dann kam mit einmal Trubel auf, alle Türen schienen gleichzeitig aufzugehen, ein Fenster öffnete sich und wehte den Vorhang hinein und es traten mehrere Gruppen von vornehmlich antik gekleideten Personen herein, einige mit Gefolge und Flötenspielern, von Sklaven getragen, kleine Blitze in den Händen, einige nackt, dazwischen Getier, entweder als Attribut oder Mittelpunkt einer eigenen Schar, ein goldener Eber, zwei Raben, Katzen und Löwen. Alle nahmen nach und nach in den vorderen Reihen Platz, ihre Togen oder Fischschwänze zwischen den Armlehnen richtend.

In den Flammen auf dem Podest stand mittlerweile eine Frauengestalt mit langem Gewand und übermäßigem Kajalrand um die Augen. Sie hatte eine Haarspange im Mund, während sie sich ihre aufgetürmten Locken richtete und wartete bis alle ihren Platz gefunden hatten.

Als letzter betrat ein rotbärtiger Mann in Wikingerkleidung den Saal und setzte sich an Rand. Er hatte sich in der Altstadt in einer Bar festgetrunken und fast den Beginn des Treffens verpasst. Der Taxifahrer hielt ihn für einen Touristen aus einem Junggesellenabschied.

 

Die Dame auf der Bühne trat ans Rednerpult.

„Guten Abend liebe FGA-Mitglieder.“

„Guten Abend Hera!“ schallte es im Chor zurück.

„Ich freue mich, dass ihr alle wieder gekommen seid, auch die Neuen unter Euch und einen besonderen Dank heute Abend an unsere lokale Gottheit Nike...“ sie blickte durch die Reihen der Zuschauer und winkte kurz einer Dame in der Mitte der ersten Reihe zu, die eine riesige Sonnenbrille und perfektes Lächeln trug „und wie immer am Anfang eines Treffens möchte ich unser Programm vorlesen, um uns alle daran zu erinnern, weshalb wir hier sind.“

Sie nahm ein Tablet, hielt es recht weit vor ihre Augen und begann abzulesen:

„Die Gemeinschaft der Anonymen Gefallenen Götter (Fallen Gods Anonymous) steht allen Wesenheiten offen, von deren Anbetung und Kult sich die Menschen abgewandt haben. Unser Bestreben nach Heilung basiert auf folgendem 12 Punkte Programm:

 

Erstens: Wir geben zu, dass wir gegenüber unserer Abhängigkeit nach externer Aufmerksamkeit in Form von Kult, Anbetung und Glauben machtlos sind – und unsere Existenz nicht mehr meistern können.

Zweitens: Wir erkennen, dass eine Macht in uns selbst, die nicht von außen kommt, uns unsere geistige Gesundheit und Autorität wiedergeben kann.

Drittens: Wir entschließen uns, uns selbst um unsere innere Autorität zu kümmern.

Viertens: Wir machen eine furchtlose und gründliche Analyse der menschlichen Welt.

Fünftens: Wir geben uns selbst und einem anderen Gott oder Göttin gegenüber unverhüllt unsere Versäumnisse zu.

Sechstens: Wir sind bereit, alle Fehler zu beseitigen.

Siebtens: Demütig beseitigen wir unsere Mängel.

Achtens: Wir machen eine Liste von Wesen, denen wir Schaden zugefügt haben und sind gewillt bei ihnen alles wieder gut zu machen.

Neuntens: Wir machen bei diesen Wesen alles wieder gut – wo immer es möglich ist– es sei denn wir verletzen dadurch andere.

Zehntens: Wir setzen die furchtlose und gründliche Analyse bei uns selbst fort.

Elftens: Wir suchen durch Innenschau und Besinnung die bewusste Verbindung mit der inneren Kraft zu vertiefen für eigenes Wissen und für den Willen und die Kraft dies umzusetzen. 

Zwölftens: Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erleben, werden wir diese Botschaft an gefallene Götter und Göttinnen weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten.“

 

Sie klappte die Hülle über ihr Tablet und legte es auf das Pult während es aus der Versammlung vor ihr „Danke Hera!“ zurück hallte.

„Alle, die Abend zum ersten Mal bei uns zu Gast sind, bitte ich ein Zeichen geben,“ fuhr Hera fort und ließ ihren Blick durch den Saal schweifen.

Auch alle Anwesenden schauten sich neugierig um und starrten auf die einzige schüchtern erhobene Hand. Sie gehörte einem Mädchen im endenden Teenageralter in einem groben und eher schäbigen Kleid, die ihren Kopf unter dem Arm trug, den sie nicht nach oben streckte.

„Wie heißt Du Liebes?“, fragte Hera.

„Mein Name ist San...Cathlyn von Sidford.“

„Hallo Cathlyn“ tönte es ihr entgegen, wodurch sie ihren Kopf noch etwas fester hielt.

„Und möchtest Du uns verraten, was Dich hierhergeführt hat?“

Sie räusperte ihren Hals frei.

“Also, ich wurde als Heilige gegenüber der römischen Unterdrückung angesehen und deshalb im Jahr 263 nach Isca Dumnoniorum gebracht, um geköpft zu werden. Vor drei Jahren hat dann das Büro für Heiligsprechungsprozesse in Rom die Aberkennung meines Heiligenstatus verkündet, da sie jetzt behaupten ich hätte damals falsche Spuren hinterlassen, um zu vertuschen, dass ich mit einem Legionär durchgebrannt bin...und, tja also...ich weiß jetzt wirklich nicht, was ich machen soll.“

“Verräterin!”, zischelte es aus einer Ecke.

“Beruhigt Euch Leute!” sprach Hera. “Wir kennen alle das Gift der Konkurrenz,” und an das neue Mitglied gerichtet “gefallene christliche Heilige fallen auch unter unsere Statuten. Willkommen Cathlyn!”

Eine Katze mit dickem Akzent sagte, während sie im Gähnen ihre Vorderpfoten streckte,

“Sie könnte sich wenigstens ihren Kopf wieder aufsetzen, das sieht billig aus.”

“Bastet bitte -” der Mangel an Nachdruck in ihrer Stimme verriet, dass Hera dies nicht zum ersten Mal sagte. Sie schaute wieder auf ihr Tablet.

“Nach dem Sharing hören wir heute einen Vortrag zum Thema `Ist die Psychiatrie die neue Inquisition´. Leider ist Barrex heute Nacht im Verkehr stecken geblieben und wird es nicht mehr rechtzeitig zu uns schaffen. Da wir hier technisch hervorragend ausgestattet sind werden wir später eine Videokonferenz schalten. Aber jetzt zuerst zum Sharing. Wer möchte uns heute teilhaben lassen? Ihr wisst, jeder hat zehn Minuten Zeit. Xiuhtecuhtli ist heute so nett und wird die Zeit stoppen.”

“Oh, Mr. Sexy!...”

“Bastet, bitte -”

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